Der Neidkopf

Apotropäum



Die Skulptur wird zur Wächterin des Ortes. Ein angsteinflößender, stummer Schrei trägt den Wunsch nach Bleiben aus dem Haus auf die Straße und gipfelt in der herausgestreckten Zunge.DerBlickbleibthängen. Da ist der wilde Blick, wo eindringliche Worte oft nicht ausreichend gehört werden wollen.  Ein stummer Schrei der Ohnmacht wird zur Fratze. 

Aus alter Tradition entstanden – wie es das barocke Wohnhaus in der Werner-Seelenbinder-Straße nebenan vormacht - wird ein Kopf mit wütendem, abschreckendem Gesichtsausdruck am Gebäudeangebracht,umes vor Neidern und Missgunst zu bewahren, das Leben des Hauses nicht zu gefährden, sondern es zu sichern. Das Haus mit dem Neidkopf im Giebel in der einstigen Mammonstraße ist einesderältestenoriginal erhaltenen Häuser Potsdams. 

A+B+C heißt hier den Status quo erhalten - das Rechenzentrum unantastbar machen.  Das Haus erhalten, weil es sich bewährt hat in seiner neuen AufgabealsKreativhaus. DenIstzustanderhalten,da es mehrere Zeitschichten sichtbar hält, die ausradiert würden, müsste es fallen, wie bereits andere Gebäude in dieser Stadt dem Erdboden gleich wurden.Dergute Geist des kulturvollen Schaffenshier hat sich bereits in die Stadt eingeschrieben. Der Neidkopf setzt seine kraftvolle Marke dafür. 

Hier an der schmerzenden Wunde der Stadt prallen Weltsichten und Umgang mit geschichtlichen Ereignissen aufeinander. Es gibt zwischen Abrisswut undRekonstruktionunzähligeFacettenvonDeutung,Bewertung,Verdrängung und Auslegung zu Missbrauch und Bedeutung des Ortes, dass sie zusammen nicht gefasst werden können. In unterschiedlicher Weise sollHistorie hiersichtbar werden und bleiben. Möchte man demgerecht werden, so müssen die Spannungen ausgehalten werden, die daraus resultieren. Sie machen deutlich, dass wir zum jetzigen Zeitpunktnicht eineeinzige Deutungshoheit haben. 

Als Impuls zum Innehalten kommt dieses Haupt an die Fassade - eine Ablenkung an der klar gegliederten Wand, eine kurze Unterbrechung für Fragen. DasInnehaltenimAlltäglichenistdieMöglichkeit,Abstandzugewinnen, um eigene Standpunkte neu zu hinterfragen. Das bietet die Voraussetzung für das Ergründen von Blickwinkeln Anderer.

Eine solche dämonenhafte Fratze kennt man als Apotropäum oder Gorgoneion, als Medusenhaupt. Mit wildem Blick unter stilisiertem Schlangenhaar und voller Leidenschaft mit furchteinflößenderMimikwarensie Schutz- und Schreckmittel bereits in der vorchristlichen Zeit. Diese Häupter mit heraushängenden Zungen sollten Unheil abwenden, Gegner und Angriffeabwehren. Auch im ChristentumwurdefürKirchenbauten und Klöster seit dem Mittelalter die Tradition der Neidköpfe übernommen, die vorher weit verbreitet auch bei den Kelten war. So hängt der Neidkopf des RZ ineinerlangenAhnenreihe. 

Kann aus Zwietracht Einigkeit werden? Zumindest eine Summe aus A+B+C ? Schaffen wir es, mit lauteren Gedanken unsere Stadt an ihrem wunden Punkt zu würdigen?An einem OrtnebeneinanderverschiedenenKonzepten Raum zu lassen für alle Aspekte, die vorgebracht werden?  Wir können die Summe nur erfahren, wenn wir ihre Teile erhalten. An einem so aufgeladenen Ort deszweierleiTrachtens ist dasLauschen besonders wichtig. Der Neidkopf gemahnt daran, wach zu bleiben, nichts zu überrennen. Bevor man etwas einreißt, sollte die Würdigung dessen, was dort entstandenist, nichtfehlen. An Orten,wo Wege in eine lebenswerte Zukunft gedeihen, sollte man den Prozess nicht abschneiden. Ein Haus, das mit fruchtbarem Schaffen gefüllt ist, das bereits derStadtgesellschaft dient,muss bleibendürfen. Letztlich schaffen die Entwicklungen unserer Zeit eine neue Zeitgeschichte, deren Lesart in der Zukunft wir nicht absehen können und kommenden Generationenüberlassen bleibt…
Foto: Michael Lüder, 2020